So viel Teamdynamik hat der neue Fussball-Europameister
«Frankreich wird Europameister», diese Prognose lese ich in diesen Tagen von vielen Fussball-Kennern und Experten. Frankreich wird meist genannt, wenn es darum geht einen Tipp für den künftigen Europameister abzugeben. Dahinter folgen Spanien, Deutschland, England oder Italien. Bei den Geheimtipps laufen die Nachbaren aus Österreich heiss. Jede dieser Nationen kann die Euro gewinnen. Holland, Kroatien, Belgien, Portugal und die Schweiz übrigens auch. Ab der K.O-Phase kann es schnell gehen. Dann entscheiden Details, die oft nicht beeinflussbar sind. Deshalb gilt für die Teams, sämtliche Punkte zu beeinflussen, die beeinflusst werden können. Zum Beispiel die Dynamik und den Spirit im Team. Es ist nicht so, dass die Nation mit dem grössten Teamspirit die EM gewinnt. Aber es ist so, dass eine Nation ohne grossen Teamspirit keine Chance auf den EM-Titel hat.
Wie geht Teamspirit?
Als
ich selber Fussball-Teams trainiert habe, machten wir verschiedene Aktivitäten rund
um das Team-Building. Gemeinsames Pizza-Essen. Bierrunde nach dem Training.
Abseilen ab einer Staumauer. Das war gut. Solche Dinge machen alle Teams. Das
sind Basics. Wichtig ist es, diese Basis auf den Platz zu transferieren. Manchmal
ist Teamspirit unvorhersehbar und unplanbar. Ein Beispiel: Dänemark bangt vor
drei Jahren um seinen Spieler Christian Eriksen. Nach einem Herzstillstand auf
dem Platz rückt die Mannschaft zusammen. Diese Dynamik - entstanden durch ein
wahres Drama - bringt die Dänen bis ins Halbfinale der EM. Es ist
unwahrscheinlich, dass dies sonst der Fall gewesen wäre. Und da sind die
Griechen vor 20 Jahren. Nach dem Sieg im Eröffnungsspiel gegen Gastgeber
Portugal reitet das Land auf einer Erfolgswelle. Die defensive Stabilität gibt
den Griechen damals so viel Sicherheit, dass sie den Gastgeber im Endspiel ein
zweites Mal bezwingen können. Sie werden Europameister. Ohne Dynamik und Akzeptanz
von jedem Spieler für die ihm zugeteilte Rolle wäre dies unmöglich gewesen. Ein
Beispiel was mit Teamspirit möglich ist, zeigt Deutschland an der WM 2014.
Jeder im Team bestätigt noch Jahre danach wie Bastian Schweinsteiger und Thomas
Müller gemeinsam die Truppe unterhalten und zum Lachen gebracht haben. Die
beiden schaffen es, sämtliche Mannschaftsteile zu vereinen und diese Einheit
auch auf den Platz zu bringen. Deutschland ist die Übermannschaft der WM in
Brasilien und Schweinsteiger und Müller sind die Bauherren für den vermutlich
logischsten Weltmeister überhaupt.
Die Schweiz wird die Dynamik entwickeln
Wie
schnell Teamspirit und Euphorie sich entwickeln können, zeigt die Schweizer
Fussball-Nati an der EM 2021. Nach zwei Spielen und nur einem gewonnenen Punkt
lacht das ganze Land über die blondierten Xhakas und Co. Eine EM-Euphorie ist
nach dem 0:3 in Rom gegen Italien weiter weg als die Schweiz von einem
Titelgewinn. Als Tabellendritter qualifizieren sich die Eidgenossen für das
Achtelfinale gegen Frankreich, wo Schweizer Fussballgeschichte geschrieben wird.
Die Euphorie im Land: Unbegrenzt. Dazwischen liegen keine 10 Tage. Und mit ein
bisschen mehr Wettkampfglück hätte die Schweiz im Viertelfinale noch Spanien
hinter sich gelassen. Dieses Beispiel zeigt, wie enorm kurzlebig der
Spitzensport ist und wie nahe Erfolg und Misserfolg liegen. Ein gehaltener
Elfmeter von Yann Sommer versetzt vor drei Jahren eine ganze Nation in Ekstase.
Für irgendeine Nation wird das auch diesen Sommer so sein. Vielleicht für die
Schweiz? Silvan Widmer sagt gegenüber SRF, dass der Spirit im Team sehr hoch
sei. Er macht diese Aussage daran fest, dass die Spieler sich nach den
Mahlzeiten nicht ins Zimmer zurückziehen, sondern gemeinsam Spiele machen und
zusammen lachen. Reicht das, um ein grosses Turnier zu spielen? Nein. Aber es
ist die Basis dafür. Nur wer die volle Bereitschaft hat, alles für das Team zu
tun, wird schlussendlich den gewünschten Erfolg einfahren. Wer einen hohen
Spirit im Team haben will, braucht Einzelspieler ohne Störfaktoren. Dazu steht
wiederum der Trainer in der Verantwortung.
Spieler verstehen und Menschen führen
Nur
wenige Menschen können Menschen langfristig führen. Im Business und teilweise
auch im Sport sind es oft die Führungskräfte, die keine Führungsqualitäten
haben. Das ist bedauerlich. Wer in rund einem Monat den EM-Pott in die Höhe
stemmt, wird mit 100-prozentiger Sicherheit Leader im Team haben und einen
starken Trainer an der Linie. Was heisst das? Ist der Trainer eine starke
Persönlichkeit, schafft er es selber, das Team bei Laune zu halten und jedem
die nötigen Freiheiten zu geben. Trainer-Legende Othmar Hitzfeld hat kürzlich
verraten, wie er Mario Basler vor dem Champions League-Final im Jahr 1999 kurz
vor Mitternacht noch mit einer Stange Bier gesehen hat. Durch ein kurzes
Gespräch wurde die Situation souverän gelöst. Köbi Kuhn erwischte im Sommer
2006 bei der WM in Deutschland Spieler beim Rauchen auf ihren Zimmern. Es gibt
damals kein Drama, sondern Höchstleitung zwei Tage später bei einem
Gruppenspiel der Schweiz. Die beiden ehemaligen Nati-Trainer haben diese
Vorfälle mit ihrer Sozialkompetenz gelöst. Grosse Führungskräfte und Trainer
reden immer mit ihren Mitarbeitenden oder Spielern. Sie wissen, was sie
beschäftigt. Sie wissen, was sie brauchen, um zu performen. Sie antizipieren
potenzielle Störfaktoren. Dazu gibt es keine KI. Dazu gibt es Menschen, die
sich dafür Zeitfenster schaffen. Das wissen grosse Trainer. Und falls sie dies
selber nicht können, delegieren sie diese Aufgabe an Führungsspieler ab. In
zahlreichen Fussballmannschaften gibt es ein Captain-Team mit der Aufgabe neu
verpflichtete Spieler an die Hand zu nehmen und sie zu integrieren. Auf dem
Platz und viel wichtiger noch: neben dem Platz. Das zählt auch in einer
Nationalmannschaft. Nur wer sich wohlfühlt, zeigt langfristig Leistung. In der
Schweizer Nati erfüllt früher Gelson Fernandes diese Rolle nahezu perfekt. Er
ist ein Mensch, der andere Menschen vereinen kann. Auch das ist eine Basis von
Teamspirit. Diese Spieler in den eigenen Reihen zu haben und sie gezielt ihre Stärke im Team ausleben zu lassen. Wer nun all diese Punkte vereint und im Kader die spielerische
Qualität hat, um es bis nach ganz vorne zu schaffen, wird die EM gewinnen
können. Möglicherweise wird es Frankreich sein? Selber würde ich nicht auf die
Franzosen wetten.